Christfluencer im öffentlichen Rundfunk – eine Analyse zwischen Medienlogik, Mission und Missverständnis
Evangelikale Influencer:innen und das mediale Dauerfeuer
Immer wieder berichten öffentlich-rechtliche Medien über sie: Christfluencer – junge, oft konservative Christ:innen, die mit Bibel, Kamera und klarer Mission durch die sozialen Medien ziehen. Beiträge mit reißerischen Titeln wie „Religiöse Influencer: Zwischen Nächstenliebe und Hass“ oder „Missionare im Netz“ scheinen mittlerweile zum Standardrepertoire zu gehören. Doch warum gerade jetzt? Was steckt hinter der wachsenden Aufmerksamkeit – und wo beginnt die Schieflage journalistischer Praxis?
Im Podcast „schöner glauben“ diskutieren Anna Kira Hippert (Religionswissenschaftlerin), Peer Asmussen (Theologe) und Jason Liesendahl (Autor und Podcaster) unter dem Titel „Zwischen Evangelikalenhysterie und Fusch – Christfluencer im ÖRR“ genau darüber. Und sie stellen dabei fest: Die Kritik an Christfluencer:innen ist oft nicht differenziert genug – und reproduziert selbst problematische Muster.
Medienhysterie oder berechtigte Kritik?
Der aktuelle Deutschlandfunk-Beitrag „Christfluencer: geschäftstüchtig, fromm, erzkonservativ“ diente als Ausgangspunkt der Debatte. Jason Liesendahl wundert sich, warum solche Beiträge regelmäßig große Wellen schlagen:
„Da sind jetzt zwei, drei Christfluencer, deren gesellschaftliche Relevanz würde ich jetzt mal sehr übersichtlich einschätzen.“
Trotzdem werden sie immer wieder zum Gegenstand aufwändiger Reportagen.
Anna Kira Hippert erkennt darin Muster früherer Skandalisierungswellen:
„Wir hatten in den 70er, 80er Jahren diese ganze Sektenhysterie. Jetzt entsteht so eine Evangelikalismus-Hysterie.“
Ein Vergleich, der provoziert, aber auch zum Nachdenken anregt: Denn häufig wird weniger gefragt, was genau problematisch ist – sondern mehr: Wer ist gefährlich?
Wer folgt eigentlich wem?
Followerzahlen ≠ Wirkungsmacht
Zehntausende Follower auf Instagram – das klingt nach Einfluss. Doch wie relevant sind diese Zahlen wirklich?
„Man müsste erstmal gucken: Wer folgt da eigentlich wem? Wie viele Evangelikale sind da wirklich drunter?“, fragt Hippert.
Das Bild, das Influencer:innen wie Jasmin Friesen vermitteln, kann täuschen. Soziale Medien erzeugen Sichtbarkeit – aber keine zuverlässige Aussage über reale Bindungen, Überzeugungen oder Mitgliedschaften. Ähnlich wie bei Scientology werden durch Inszenierung und geschickte Mediennutzung symbolische Machtverhältnisse aufgebaut – auch wenn reale Mitgliedszahlen nicht steigen.
Mission oder Manipulation?
Besonders sensibel wird es, wenn von „Mission“ die Rede ist. Der Begriff wird medial oft negativ aufgeladen – beinahe synonym für Manipulation. Jason Liesendahl widerspricht:
„Glaubenskommunikation ist doch der Kern von Religionsfreiheit. Natürlich dürfen die von ihrem Glauben erzählen.“
Auch Peer Asmussen verteidigt das Grundrecht auf Glaubensäußerung:
„Wenn jemand nach einem Fußballspiel sagt: ‚Jesus hat mir Kraft gegeben‘ – dann ist das keine politische Gefahr, sondern Ausdruck religiöser Freiheit.“
Dass Mission vor allem eine Wirkung nach innen entfaltet, sei dabei ein häufig übersehener Aspekt:
„Das Missionieren dient häufig der Selbstvergewisserung. Ich spüre meinen Glauben, wenn ich ihn öffentlich bekenne“, so Peer.
Das große Missverständnis: Rechtspopulismus = Religion?
Ein zentrales Problem der medialen Beiträge sei die Gleichsetzung von konservativen Christ:innen mit rechtspopulistischen Akteur:innen – ohne klare Differenzierung. Peer kritisiert:
„Es wird nicht definiert, was Rechtspopulismus eigentlich meint. Es reicht oft der Kontakt, um zu sagen: ‚Aha, verdächtig!‘“
Jason ergänzt:
„Da wird eine Beweisführung über Assoziationen aufgebaut. Zwei, drei Begriffe werden nicht erklärt – fertig ist das Narrativ.“
Anna weist darauf hin, dass dies auch ein grundlegendes Missverständnis über Religion offenbart:
„Es wird suggeriert, dass Religion automatisch radikalisiert. Erst war es der Islam, jetzt Evangelikale. Aber Fundamentalismus gibt’s auch ohne Religion.“
Plattformlogiken, parasoziale Nähe und Clickbait
Evangelikale Influencer:innen sind nicht nur religiös, sondern auch medienkompetent.
„Die Evangelikalen sind Early Adapters of Technology. Sie haben sich schon zigmal angepasst. Die wissen, wie Plattformen funktionieren“, so Hippert.
Besonders bedenklich werde es, wenn öffentliche Medien diesen Mechanismen unwissentlich in die Hände spielen – z. B. durch direkte Verlinkungen oder das Markieren von Christfluencer:innen in eigenen Beiträgen.
„Das ist kostenlose Werbung – finanziert von der GEZ“, so Peer.
Ein weiteres Phänomen: parasoziale Beziehungen.
„Menschen schauen 80 Stunden lang einem Influencer zu und haben das Gefühl, sie kennen ihn. Aber die Beziehung ist asymmetrisch“, erklärt Jason. Das erzeugt emotionale Nähe – auch ohne persönlichen Kontakt.
Was fehlt: Analytische Tiefe und politische Einordnung
Was wünschen sich die drei Gesprächspartner:innen stattdessen? Vor allem: mehr analytische Tiefe, weniger Alarmismus. Anstatt zu sagen: „Die sind konservativ – das ist gefährlich“, müsste gefragt werden:
- Welche Ideologie steckt dahinter?
- Welche Wirkung hat das öffentlich?
- Wird Politik gemacht – oder nur geglaubt?
So plädiert Jason für eine Unterscheidung:
„Ein konservatives Weltbild ist nicht per se problematisch. Problematisch wird es, wenn daraus ein politischer Alleinvertretungsanspruch wird, der andersdenkenden die Daseinsberechtigung abspricht.“ Den Nachweis dessen bleibt die Berichterstattung in weiten Teilen schuldig.
„Unpolitisch glauben“ – geht das überhaupt?
Viele Christfluencer:innen betonen, sie seien „nicht politisch“. Ein Selbstverständnis, das das Podcastteam kritisch einordnet.
„Keiner von denen macht Wahlwerbung für die AfD. Aber sie öffnen die Tür – durch ihre Ästhetik, durch Gesprächspartner, durch Themenwahl“, meint Jason.
„Und das halte ich für gefährlich. Auch, wenn sie selbst das gar nicht intendieren.“
Peer ergänzt:
„Sobald du gesellschaftliche Debatten beeinflusst, bist du politisch. Ob du willst oder nicht.“
Abschließende Perspektiven: Journalismus zwischen Plattformstress und Verantwortung
Warum aber ist die Berichterstattung oft so oberflächlich? Die Antwort liegt womöglich im Journalismus selbst.
„Der Zeitdruck ist immens. Beiträge werden mit KI-Tools, Datenbanken und unter Plattformzwang produziert“, so Hippert.
„Tiefenanalyse bleibt da auf der Strecke.“
Gleichzeitig treffen Journalist:innen auf religiöse Akteur:innen, die selbst reichweitenstark und medienerprobt sind – und Debatten teilweise besser navigieren können als die Redaktionen selbst.
Fazit: Ein Aufruf zur Differenzierung – in alle Richtungen
Die Podcastfolge „Zwischen Evangelikalenhysterie und Fusch“ ist keine Verteidigung evangelikaler Christfluencer:innen – sondern eine Einladung zu mehr Differenzierung. Wer echte Kritik üben will, braucht mehr als Buzzwords.
Denn: Ja, es gibt fundamentalistische Tendenzen. Ja, es gibt problematische Nähe zu rechten Positionen. Aber nicht jede Bibelstelle auf Instagram ist ein politisches Manifest.
„Wir müssen die Frage stellen: Wollen diese Influencer:innen, dass ihre Überzeugung für alle gilt – oder nur für sich selbst?“, formuliert Jason am Ende.
Und das ist vielleicht der wichtigste Punkt: Gute Berichterstattung beginnt mit echten Fragen – nicht mit Schlagzeilen.